EuGH: Antrag auf Steuerentlastung auch nach Ablauf der Antragsfrist erfolgreich?
Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Dezember 2022 in der Rechtssache Shell Deutschland Oil GmbH (C‑553/21) entschieden, dass der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für fakultative Steuerermäßigungen gilt und damit ein Steuerentlastungsantrag auch nach Ablauf der im nationalen Recht geregelten Antragsfrist nicht verweigert werden darf, sofern im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
Fraglich war bis dato, ob der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Antragsfrist auch bei fakultativen Steuerermäßigungen wie z. B. § 9b StromStG oder § 54 EnergieStG zu Fall bringt, wenn noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Zuletzt war die Antragsfrist bereits bei Steuerentlastungen gekippt worden, deren Grundlage eine obligatorische Regelung in der Systemrichtlinie 2020/262/EU oder der Energiesteuerrichtlinie 2003/96/EG ist und bei denen der Entlastungsanspruch erst bei nachträglichem Vorliegen einer nachweislichen Versteuerung entsteht. Danach kommt es im Einzelfall nicht (mehr) zwingend auf die in den Entlastungsvorschriften genannten Antragsfristen an. Ist die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen, ist eine Antragstellung also auch nach Ablauf der in den einzelnen Entlastungsvorschriften vorgesehenen Antragsfristen möglich. Dies hatte auch die deutsche Zollverwaltung bereits so umgesetzt. Für die fakultativen Steuerermäßigungen ließ man diese Flanke allerdings noch offen und überließ die Entscheidung dem EuGH.
Der BFH hatte hierfür bereits mit Beschluss vom 08. Juni 2021 im Rahmen des Verfahrens VII R 44/19 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit dem Vorabentscheidungsersuchen C-553/21 die Frage vorgelegt, ob der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für die fakultativen Steuerermäßigungen gilt mit der Folge, dass der Mitgliedstaat die Steuerermäßigung nach Ablauf der in seinem Recht geregelten Antragsfrist nicht verweigern darf. Bemerkenswert war hierbei schon die offenbare Tendenz des BFH, hier zugunsten der Antragstellerin entscheiden und damit die Antragsfrist auszuhebeln zu wollen.
Hintergrund
Die Klägerin stellte beim Hauptzollamt Hamburg Anträge auf Energiesteuerentlastung nach § 54 Abs. 1 EnergieStG für die Monate August bis November 2010. Diese Anträge gingen jedoch erst im Mai 2012 beim HZA ein, also nach Ablauf der Antragsfrist zum 31. Dezember 2011. Währenddessen hatte im Jahr 2011 eine Außenprüfung bei der Klägerin begonnen, welche seitdem die Festsetzung hemmte nach § 171 Abs. 4 AO. Unstreitig war, dass die Klägerin, abgesehen von der Antragstellung, grundsätzlich alle Voraussetzungen für eine Steuerentlastung gemäß § 54 Abs. 1 EnergieStG erfüllte. Das HZA lehnte die Entlastung von der Energiesteuer jedoch mit der Begründung ab, dass der Antrag auf Steuerentlastung nicht innerhalb der in § 100 Abs. 1 EnergieStV festgelegten Frist gestellt habe. Nach erfolglosem Einspruch hatte die Klage jedoch Erfolg. Dagegen wendete sich das HZA im Revisionsverfahren vor dem BFH, der wiederum dem EuGH vorlegte (s. o.).
Entscheidung des EuGH
Der Effektivitätsgrundsatz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung (hier Antragsfrist nach § 100 Abs. 1 EnergieStV) entgegen, welche die Entlastung trotz eines Antrags noch vor Ablauf der Festsetzungsfrist versagt. Die bloße Nichteinhaltung der Frist für die Stellung eines Antrags auf Steuerentlastung darf nicht automatisch und ausnahmslos zur Ablehnung dieses Antrags führen. Dies muss insbesondere auch dann gelten, wenn die Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer wegen einer beim Antragsteller durchgeführten Außenprüfung noch nicht abgelaufen ist.
Hinweis für die Praxis
Die jüngste Rechtsprechung zu dieser Thematik bestätigt damit eine mittlerweile als gefestigt geltende Meinung des EuGH in Bezug auf den sog. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Steuerpflichtige sollten daher für Entlastungsanträge, die aufgrund einer Verfristung abgelehnt wurden, dringend prüfen, inwieweit sie von der neuen EuGH-Rechtsprechung profitieren können.
Für Fragen zu dieser Thematik steht Ihnen der Verfasser dieser Meldung, Rechtsanwalt Stefan Ulrich, gerne zur Verfügung.
Quelle:
EuGH, Urteil vom 22.12.2022 – C-553/21, Shell Deutschland Oil