BFH: Urteil zu Antrags- und Festsetzungsfristen für Steuerentlastungen nach dem Energie- und Stromsteuerrecht

Der BFH hat sich mit Urteil vom 29. August 2023, VII R 1/23 (VII R 44/19) erneut zu den Antrags- und Festsetzungsfristen für Steuerentlastungen nach dem Energie- und Stromsteuerrecht geäußert und die Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Auslegung nationaler Vorschriften im Ergebnis verneint.

Leitsätze des Gerichts

1. Es verstößt gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische oder eine fakultative Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird.

2. Bei einer nicht auf Unionsrecht beruhenden nationalen Energiesteuerbegünstigung steht dagegen das Unionsrecht einer Verweigerung der Steuerbegünstigung aufgrund der Verletzung formeller Anforderungen nicht entgegen.

3. Einem tatsächlichen Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein oder Rechtsbindungswillen werden die Wirkungen einer Willenserklärung nur zum Schutz des redlichen Rechtsverkehrs beigelegt. Es kommt daher keine Auslegung in Betracht, wenn der Handelnde keinen Erklärungswillen hat und der Empfänger dies auch erkennt.

Sachverhalt

Die Klägerin, ein Unternehmen des Produzierenden Gewerbes, stellte beim Beklagten (HZA) Anträge auf Energiesteuerentlastung für die Monate August bis November 2010 nach §§ 51, 53 und 54 EnergieStG unter Verwendung des vorgeschriebenen amtlichen Vordrucks. Ein Eingang der Entlastungsanträge für die Monate August bis November 2010 konnte beim HZA nicht (fristgerecht) festgestellt werden; infolgedessen erstattete dieses der Klägerin die betreffenden Entlastungsbeträge nicht.

Im Rahmen einer Außenprüfung übergab die Klägerin circa Mitte des Jahres 2011 den Außenprüfern einen Ordner "Steueranmeldung 2010 für Zollprüfung", in welchem die vollständigen Steueranmeldungen und Steuerentlastungsanträge des Kalenderjahres 2010 monatlich geordnet und durch Trennblätter sortiert in Kopie abgeheftet waren. Nachdem der Außenprüfer die Klägerin am 27. April 2012 darüber informiert hatte, dass deren Entlastungsanträge für die streitgegenständlichen Monate nicht im Original beim HZA eingegangen seien, stellte diese mit Schreiben vom 07. Mai 2012 neue Entlastungsanträge und beantragte gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das HZA lehnte diese Entlastungsanträge und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab.

Es ist unstreitig, dass die Klägerin während des gesamten Jahres 2010, abgesehen von der Antragstellung, alle übrigen Voraussetzungen für die o. g. Steuerentlastungen erfüllte. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hatte die Klage beim Finanzgericht (FG) Erfolg. Das FG sah die Übergabe des Ordners "Steueranmeldung 2010 für Zollprüfung" mit den darin enthaltenden Kopien der Entlastungsanträge als form- und fristgerechte Antragstellung an. Im Rahmen des Revisionsverfahrens wurde die Rechtsfrage dem EuGH zur Klärung vorgelegt.

Aus den Gründen

Der BFH hat unter Bezugnahme auf den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz festgestellt, dass es nach der Rechtsprechung des EuGH gegen Unionsrecht verstößt, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische oder fakultative Steuerbegünstigung nach der Energiesteuerrichtlinie verweigert wird, wenn an der tatsächlichen Verwendung der Energieerzeugnisse kein Zweifel bestehe. Auf die Unterscheidung zwischen obligatorischen und fakultativen Steuerbegünstigungen komme es insoweit nicht an.

Die Klägerin habe trotz Versäumung der Antragsfristen einen Anspruch auf die gewährten obligatorischen oder fakultativen Steuerentlastungen. Dies gelte allerdings nur, wenn der Entlastungsantrag noch innerhalb der Festsetzungsfrist nach den Bestimmungen der Abgabenordnung gestellt wird.

Bei einer nicht auf Unionsrecht beruhenden nationalen Energiesteuerbegünstigung stehe jedoch das Unionsrecht einer Verweigerung der Steuerbegünstigung aufgrund der Verletzung formeller Anforderungen nicht entgegen. Die Versäumung der Antragsfrist führe hier zu einem Ausschluss des Entlastungsanspruchs. Bezüglich der einjährigen Antragsfrist sei der nationale Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Es sei nicht ersichtlich, dass eine einjährige Antragsfrist unzumutbar ist. Damit sei im Ergebnis zu differenzieren zwischen Antragsfristen bei Steuerbegünstigungen, die nicht auf Unionsrecht beruhen (z. B. § 51 EnergieStG und § 9a StromStG), und Antragsfristen bei obligatorischen und fakultativen Steuerbegünstigungen, die auf Unionsrecht beruhen (z. B. §§ 53, 53a, 54 EnergieStG sowie § 9b StromStG und §§ 12a, 12c und 12d StromStV).

Hinweis für die Praxis

Bei obligatorischen Steuerbegünstigungen nach der Energiesteuerrichtlinie RL 2003/96/EG und der Systemrichtlinie (EU) 2020/262 sowie bei fakultativen Steuerentlastungen kommt es nicht auf die in den Entlastungsvorschriften genannten Antragsfristen an, sondern allein darauf, ob der Entlastungsantrag innerhalb der Festsetzungsfrist gestellt wird. Ist die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen, ist eine Antragstellung auch nach Ablauf der in den Entlastungsvorschriften vorgesehenen Antragsfristen zulässig.

Wurden Anträge auf Steuerentlastung in manchen Fällen wegen des noch nicht vorliegenden BFH-Urteils VII R 1/23 zunächst von dem zuständigen Hauptzollamt vorläufig festgesetzt und hat sich die vorläufige Steuerfestsetzung als zutreffend erwiesen, wird diese vorläufige Steuerfestsetzung nur auf Antrag des Steuerpflichtigen vom Hauptzollamt für endgültig erklärt. Sind an der vorläufigen Steuerfestsetzung Änderungen vorzunehmen oder ist die vorläufige Steuerfestsetzung vollständig aufzuheben, wird dies durch Änderungsbescheid des Hauptzollamts und unter Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks erfolgen.

Für Fragen zu dieser Thematik steht Ihnen der Verfasser dieser Meldung, Rechtsanwalt Stefan Ulrich, gerne zur Verfügung.

Quelle:

BFH, Urteil vom 29. August 2023, VII R 1/23 (VII R 44/19)